Dystopie,  Rezension

The Grace Year

Handlung:

Machtlos sein. Das Gefühl kennt Tierney nur allzu gut. Als junge Frau in Garner County wird sie den Männern untergeordnet, als niederes Wesen angesehen. Die Willkür der patriarchalen Struktur ist für sie alltäglich, nur in ihren Träumen lebt sie Gedanken des Widerstandes. Eigentlich sollte es anders sein. Schließlich erwacht mit ihrem 16. Lebensjahr ihre Magie. Magie, durch die Jungen und Männer angeblich dem Wahnsinn verfallen. Doch Tierney spürt keine Magie, keine Macht. Das Einzige, was sie fühlt, ist Furcht. Denn mit ihrem 16. Geburtstag naht das Gnadenjahr, ein Jahr außerhalb der Stadt. In diesem sollen die jungen Frauen ihre Magie austreiben, um gereinigt zurückzukehren. Niemand weiß, was dort vor sich geht und die Heimkehrerinnen hüllen sich in Schweigen. Doch die fehlenden Frauen und gebrochenen Mädchen sind Tierney Antwort genug.

Sie hat keine Wahl und so bricht auch sie auf ins Ungewisse. Läuft verschlungene Pfade durch einen Wald voller Wilderer zu einem umzäunten Gebiet mit verfallenen Baracken. Als die Tore schließen, ist ihr Schicksal besiegelt. Nun gilt es, mit den anderen Mädchen zu überleben. Doch anstatt zusammenzustehen, bricht zwischen den Frauen Streit, Mobbing, Gewalt und Willkür aus. Schon bald muss Tierney feststellen, dass nicht die Natur, das mangelnde Essen oder die katastrophalen hygienischen Bedingungen ihre größten Gefahren sind und so fasst sie einen gewagten Plan…

Meinung:

The Grace Year ist ein New York Times Bestseller. Dementsprechend hatte ich ziemlich hohe Erwartungen an das Buch und versprach mir eine gelungene Dystopie mit vielseitigen Charakteren. Doch nach den letzten Seiten sind es nicht die Handlungen der Figuren oder die Kulissen, die lange nachhallen werden. Es sind die Gefühle, die ich während des Lesens zu diesem Buch hatte. Von den ersten Seiten an bringt die Geschichte eine Schwere mit sich. Tierneys Empfindungen der Hoffnungslosigkeit werden fast augenblicklich greifbar und wortgewaltig transportiert. Sie sind der Fluss, den der Lesende schwimmt, um ihre Quelle im County zu finden. Doch mit Betreten des Countys hatte ich das Gefühl, in ein literarisches Loch zu fallen. Es wirkte wie der Ansatz einer interessanten dystopischen Welt, der jedoch unvollendet blieb. Garner County ist ein Dorf mit mittelalterlichen Strukturen. Die Einwohner sind streng religiös, unterdrücken Frauen aufgrund des Glaubens. Der Galgen ist die Strafe all jener, die das System hinterfragen oder zu Unrecht der Magie beschuldigt werden. Das Volk erliegt der Willkür eines ausschließlich mit Männern besetzten Rates.

Diese Kulisse setzt die Autorin voraus. Andeutungen, wie die bestehenden Strukturen zustande kamen, fehlen meist. Ebenso, wie die komplette Welt außerhalb des Dorfes. Mit ein paar Zeilen wird ein Wald um das Dorf gesetzt, später gelangt der Blick des Lesers in die Außenbezirke, dann zum Schauplatz des Gnadenjahres. Einmal werden Orte in einem Nebensatz erwähnt, in welchem Frauen und Männer gleichberechtigt miteinander leben. Doch wie und warum das im Garner County nicht so ist, erfährt man nicht. Das fand ich wirklich schade, da auf den bestehenden Strukturen in Tierneys Geburtsort die gesamte Geschichte des Buches basierte. Da hätte eine vielschichtige Kulisse dem Buch äußerst gutgetan. So saß ich jetzt also meinem literarischen Loch, gemeinsam mit Unverständnis und Unbehagen der Welt gegenüber. Das hat mir den Zugang zur eigentlichen Handlung und den Charakteren sehr erschwert.

Trotzdem würde ich die Kulisse auch nicht als oberflächlich bezeichnen. Im Gegenteil: Viele Details, wie die Sprache der Blumen, waren liebevoll und kreativ in das Geschehen eingearbeitet und unglaublich faszinierend. Der Schauplatz des Gnadenjahres war im wahrsten Sinne des Wortes unheimlich detailliert beschrieben, denn Kim Liggett bedient sich nicht selten dem ein oder anderen Horrorelement. Manche Bilder waren einfach nur gruselig, andere absolut ekelerregend. Es hat dem an sich schon düsteren Ort einen noch schlimmeren Charakter aufgedrängt, den ich als Nicht-Horror Leserin … grenzwertig… fand.

Kim Liggett schreibt reduziert, dafür aber umso eindrücklicher. Ihr gelingt es, Stimmungen zu transportieren, manchmal mit Worten, manchmal zwischen den Zeilen. Gerade die Gefühlswelt der Protagonistin wurde dadurch facettenreich und für den Lesenden greifbar. Tierney James zeigt sich als sehr reflektierter Charakter. Sie traut sich die diskriminierenden Strukturen wie auch den Glauben zu hinterfragen und erkennt die Dringlichkeit eines Wandels. Auch wenn dies ihr rebellische Züge verleiht, so steht sie nicht offen für ihre Überzeugungen ein. Einzig im Traum folgt sie den Rebellinnen in den Wald, auf der Suche nach Verbündeten, auf der Suche nach Veränderung. Ihr eigenes Leben möchte Tierney aber auch in der Realität selbst in die Hand nehmen. Sie plant ein Leben als Feldarbeiterin, unverheiratet im Arbeitshaus. Doch am Schleiertag werden ihre Pläne zunichte gemacht und so zieht sie ohne Hoffnung hinaus in das Gnadenjahr.

Während des Gnadenjahrs kommt Tierneys Verbundenheit mit der Natur aber auch ihr Verantwortungsbewusstsein zum Vorscheinen. Wie selbstverständlich errichtet sie handwerklich geschickt Apparaturen und kümmert sich um jene, die von den anderen Mädchen geächtet werden. Doch Schritt für Schritt droht auch sie, ein Opfer des Wahnsinns zu werden. Die ICH-Perspektive verzerrt sich allmählich, der Übergang zwischen Halluzination und Existenz zerfließt. Trotzdem verliert sie nicht ihren Mut, nicht den Willen, zu überleben. Ich habe sie für ihr Durchhaltevermögen bewundert. Selbst wenn die Welt um sie herum einstürzt, sie bricht nicht.

„Früher glaubte ich, das sei meine Magie – Dinge sehen zu können, die andere nicht sahen, Dinge, die sie gar nicht wahrhaben wollten. Aber man muss nur die Augen aufmachen. Meine Augen sind weit offen.“ – Tierney James

Fazit:

The Grace Year ist ein dystopisches Werk mit einer starken Protagonistin. Zeitweise wurde die Handlung jedoch in zu enge Räume gedrängt, in denen sie nicht ihr volles Potential entfalten konnte. Auch deshalb bin ich mit dem Buch bis zum Schluss nicht ganz warm geworden. Die transportierten Stimmungen und Gefühle werden dennoch nachhallen und auch das Ende der Geschichte gibt Anlass zum Nachdenken.

Fakten:

TitelThe Grace Year – Ihr Widerstand ist die Liebe
AutorinKim Liggett
VerlagDressler
Erscheinungsjahr2020
Seitenzahl416
Preis22,00 €

Eure Jasmina

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