Rezension,  Urban Fantasy

Der Nachtzirkus

Handlung:

Plötzlich ist er da. Wo am Vortag sich das karge Feld erstreckte, hat er halt gemacht, schon von weitem kann man die schwarz-weiß gestreiften Zelte erahnen. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Kunde in Dorf und Stadt, ja sogar im ganzen Land: Le Cirque des Rêves ist gekommen. Er trägt seinen Namen zu Recht, denn das neue Projekt von Chandresh Lefèvre ist einzigartig. Erst um Mitternacht, wenn die Wunschtraumuhr von Friedrick Thiessen zwölf schlägt, öffnen sich seine Tore. Dann strömen die Besucher in Scharen herein, bestaunen die Darbietungen und Attraktionen. Fast keine davon ist mit einem gewöhnlichen Zirkus vergleichbar. Jede Nacht vollführen Künstler unglaubliches, verstärken die surreale Stimmung, nach der sich die Besucher verzehren. Auch Bailey, der Sohn eines Farmers, ist unter den Zuschauenden. Besonders Poppet und Widget, die auftretenden Zwillinge, bewundert er. Und auch du erlebst deine ganz eigene Reise durch eine mystische Welt voller Wunder.

Doch der Zirkus ist nicht nur ein Ort des Vergnügens. Vielmehr ist er der Schauplatz eines mehrjährigen Wettbewerbes zweier verfeindeter Zauberer, Alexander und Prospero. Beide haben je einen Kandidaten erwählt, um jenen Kampf auszutragen, welchem sie sich selbst nie stellten. Den Kampf auf Leben und Tod. Doch als sich Marco und Celia, die antretenden Zauberer, begegnen, verlieben sie sich ineinander. Was als zarte Beziehung beginnt, wird von Jahr zu Jahr stärker. Diese Liebe ist von den Zauberern verachtet und auch Marco und Celia wissen, wie zerbrechlich sie ist. Denn einer von ihnen muss in dem Wettkampf sein Leben lassen, in einem Spiel, dass weit vor ihrer Geburt seinen Anfang nahm…

Meinung:

Schon von der ersten Seite hat mich das Buch „Der Nachtzirkus“ einfach nur fasziniert. Noch bevor das eigentliche Geschehen die Zeilen betrat, entfesselte die Geschichte einen Sog, der mich nicht mehr losließ. Ich selbst wurde zu einer Besucherin des Nachtzirkus, habe als Passantin in der Menge gestanden, auf die große Wunschtraumuhr geschaut und bin um Mitternacht eingetreten. Gleichzeitig besetzte ich die Rolle der Leserin, die ein kleines Mädchen im Februar 1873 zu ihrem Vater Prospero begleitete. Ein Mädchen, dass selbst zur Zauberin werden sollte und sich doch nicht mehr von ihrem Lehrmeister unterscheiden könnte. In jungen Jahren ist sie fügsam, beugt sich dem Willen ihres Vaters. Sie begreift noch nicht, dass sie eine Spielfigur ist und doch spürt sie die Last des Wettstreites Tag für Tag. Die Bürde zeigt sich in kalter Disziplin, zu der sie gezwungen wird, doch auch in der Einsamkeit und letztendlich in ihrer Rolle, die sie darstellt. Prospero gibt nie vor, Celia zu lieben. Er sieht in ihr das Mittel zum Zweck, das Mittel zum Gewinn. Dieses kaltherzige Verhalten spiegelt sich in jedem seiner Charakterzüge. Er hält viel von sich und wenig von anderen und behandelt jene auch so. Doch sein Kalkül ist nicht nur von Erfolg geprägt. Schon bald muss er selbst erfahren, wie es ist, ohne freie Entfaltung zu existieren.

Zur gleichen Zeit wächst Marco bei dem Zauberer Alexander auf. Mit neun Jahren wurde er sein Schüler, öffnete die Augen für Magie, ohne seinen Meister je zu begreifen. Auch für den Lesenden bleibt Alexander ein Mysterium. Ein unscheinbarer Mann, leise und einflussreich. Nie erfährt man etwas über seine Vergangenheit und nur wenig über sein gegenwärtiges Leben. Gerade das hat ihn für mich so spannend und unberechenbar gemacht. Die Spielfiguren sind bereit, der Austragungsort ist es nicht. Es braucht eine ausgewählte Gruppe außergewöhnlicher und kreativer Leute, die während des Mitternachtsdinner im Hause Lefèvre eine neue Attraktion erdenken. Ein nie dagewesenes Schauspiel für alle Sinne, umhüllt von schwarz-weißen Zelten und der Kraft des Übersinnlichen. Den Nachtzirkus. Ich war beeindruckt, wie zart die Idee Gestalt annahm, wie ich ihre Entwicklung genießen und doch durch den eigenen Besuch zwischen den Kapiteln einen Eindruck gewinnen konnte.

Währenddessen verspinnen sich die Fäden zwischen den Figuren immer weiter, wenn auch nicht zur selben Zeit. Zahlreiche Zeitsprünge geben Voraussichten, geben Rückblenden. Was zunächst verwirrend erscheinen könnte, setzt Erin Morgenstern gekonnt ein, um verschiedene Figuren zu vereinen und manchmal auch zu trennen. Ich liebte das Zusammenspiel aller Charaktere, doch besonders mochte ich das Zusammentreffen von Marco und Celia. Es ist forciert und kommt doch für die beiden ganz ungeahnt. Ihre Bänder verknoten sich fest im Zirkus selbst. Vorsichtig nähern sie sich einander an, die zarte Liebe so zerbrechlich wie Porzellan. Es ist nicht einfach für sie, mit der Rolle als Kontrahenten umzugehen. Mit ihrem Wirken im Zirkus bereichern sie einander, ohne es wie ihre Lehrmeister als „Battle“ zu betrachten. Jeder der Charaktere und auch alle anderen Protagonisten sind so unglaublich einzigartig, dass ich einfach nur sprachlos bin. Sie alle haben ein Herz, dass laut gegen die Buchdeckel schlägt, mal mit guten, mal mit bösen Absichten. Nicht alle offenbaren jede Furche ihres Inneren und doch zeigen einzelne Situationen immer wieder die Tiefe ihres Seins auf.

Erin Morgensterns Schreibstil ist speziell. Wirklich speziell. Von vielen wird er auch kritisiert, aber ich finde ihn einfach nur toll! Ich brauchte erst einmal ein wenig Zeit, um mich in seiner Komplexität zurechtzufinden, alle Ereignisse und Figuren Schritt für Schritt zu sortieren. Dann wurde ich von einem regelrechten Sog erfasst, der mich in das Buch und seine Magie hineingezogen hat. Fasziniert wurde ich vor allem von Erin Morgensterns detaillierter Beschreibung des Nachtzirkus. In seiner Ausarbeitung steckten so viel Liebe, Kreativität und Traum, dass ich komplett überwältigt wurde. Jedes einzelne Zelt hat mich beeindruckt, ich kam zwischen den vielen Attraktionen, großartigen Menschen und magischen Elementen gar nicht mehr aus dem Staunen heraus. Stets war alles in eine mystische, gleichzeitig aber auch warme Atmosphäre gehüllt, geschaffen aus Duft und Licht. Wie viel würde ich dafür geben, außerhalb des Buches einen Ort wie den Nachtzirkus zu besuchen. Ich habe in ihm meinen ganz persönlichen literarischen Sehnsuchtsort gefunden.

Auch außerhalb des Zirkus gibt Erin Morgenstern dem Geschehen tolle Schauplätze. Es sind Orte auf unserer Landkarte, die stets vom 19. und 20. Jahrhundert gezeichnet werden. Ich fand es irgendwie passend, dass das Buch in der Vergangenheit spielt. In unserer Zeit würde ein Zirkus dieser Art, so vermute ich, nicht lange von solchem Geheimnis ummantelt sein. Doch um den Zirkus in all seiner Vielschichtigkeit zu erleben, muss man sich aufmerksam und mit Hingabe auf den Schreibstil einlassen. Denn das Buch lebt von jenen Facetten, die man im schnellen Lesen leicht übersieht. Ich habe über eine Woche für die 464 Seiten gebraucht, doch ich wurde mit dem Gefühl belohnt, ein Teil dieser magischen Welt zu sein.

„Wir fügen dem Zirkus unsere eigenen Geschichten hinzu. Jeder Besucher, mit jedem Besuch, an jedem Abend. Vermutlich wird es nie an Erzählstoff mangeln, an Geschichten, die wir anderen weitergeben.“ – Friedrick Thiessen

Fazit:

Der Nachtzirkus steckt voller Kreativität und Magie. Ich habe mich zwischen den Zeilen verloren und eine wunderbare Geschichte mit ganz viel Tiefgang gefunden. Ein großartiges Debüt, das schon jetzt nicht nur ein potentielles, sondern ein ganz sicheres Jahreshighlight für mich ist!

Fakten:

TitelDer Nachtzirkus
AutorinErin Morgenstern
Verlagullstein
Erscheinungsjahr2012
Seitenzahl464
Preis19,99 €

Eure Jasmina

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